Mein erstes ›wolfsMal‹ hab ich aufgeschrieben
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Mein erstes ›wolfsMal‹ hab ich aufgeschrieben
von Dompteur am 07.12.2013 20:13Chronologisch 7./8./9. und 11.12. zum besseren Erinnern. Ich brauch so ein bisschen das Erinnern, um meine Disziplin beizubehalten. Manche Trigger kann ich beeinflussen, andere nicht. Wenn ich leichtsinnig werde, weiß ich, kann das Tier mir wehtun. Wenn ich es vergesse, hat der Wolf ne große Fresse und die Dressur ist nur ein Spiel mit dem Wind, der sich dreht, wann immer er will!
7.12./vor7 Jahren
»Diese Woche will ich noch schaffen!«
Wollte es oder konnte es nicht raffen,
dass mein Körper längst nicht mehr ging,
am seidenen Faden hing
und es allerhöchste Not bot,
nun endlich die Reißleine zu ziehen?
Längst stellte sich mein Gesundheitszustand,
na sagen wir mal,
kritisch dar.
Da ich jedoch die Arbeit mit den Leuten „Am Camp"
sehr schätzte,
wollte ich noch so viel Zeit wie irgend möglich herausschinden.
Und sicher ging es auch ums Geld.
Wie das so ist, in ›unsererallerschönen‹ Welt.
Ganz so überraschend kam es jedoch auch nicht.
Tom und Jerry hatte ich schon vorgewarnt,
dass sie nicht warten bräuchten,
stände ich mal nicht am verabredeten Ort,
immer noch fest entschlossen,
die Woche voll ›vollzumachen‹.
Jeden Morgen stieg zu den beiden in den Wagen.
Dieser Morgen war anders.
›Ausgehfein‹,
ich mein kein Arbeitszeug am Leib,
wartete ich wieder auf die beiden.
Ich ließ mir ihre Telefonnummer geben
und teilte ihnen meinen Entschluss,
nun doch zum Arzt zu gehen,
mit.
Sie wünschten mir gute Besserung
und rauschten ab.
Ich ging wieder nach Haus
und bereitete mich auf meinen ersten Arztbesuch vor.
Noch eine Morgentoilette,
wieder spülen und einen Moment lang ruhen.
In eine kleine Thermokanne füllte ich verdünntes Mundwasser.
Damit würde ich beim Arzt,
bevor er mich zu sich rein rief,
noch mal spülen.
Schmutzig fühlen wollte ich mich nicht.
Wie jäh befürchtet,
konnte mir der Doktor nicht helfen.
Stattdessen ließ er mich noch einmal beim Zahnarzt vorsprechen.
Wobei vorsprechen im übertragenen Sinne gemeint,
denn sprechen wäre zu viel gesagt!
»Wären Sie damit einverstanden,
wenn ich ein paar Fotos mache?« fragte Dr. Jekyll!
In Halberstadt hatten sie auch Fotos gemacht.
Also warum nicht.
Kann jedenfalls nicht schaden,
dachte ich,
falls man später mal den Verlauf dokumentieren will.
Da hatte ich mich getäuscht.
Denn als der Arzt mir eine Spange einsetzen wollte,
sollte meine Lippe linkerseits reißen.
Auch die Traktion mit den Spiegeln strängte sehr an.
Dann,
als er seine Fotos hatte,
gab er mich wieder frei.
Ohne etwas an meinem Zustand verbessert,
ihm sogar geschadet zu haben.
Aber immerhin rief er einen Kollegen,
einen Hautarzt,
an.
»Ob ich noch bis Zwölf kommen kann?«
wollte der (matologe) wissen.
Ich schüttelte den Kopf.
»Bis fünfzehn Uhr?«
Was auch schwierig war.
Bis Nordhausen ist es nicht weit,
aber ohne Fahrzeug kaum zu erreichen.
Also blieb offen,
bis wann ich in Nordhausen sein konnte.
Wenigstens war Donnerstag
und bis achtzehn Uhr Sprechstunde
und der Hautarzt würde mich dazwischenschieben,
wann immer ich da wäre.
Also ging ich wieder zum Hausarzt,
ließ mir eine Überweisung geben
und ging nach Haus.
Dort rief ich Maus an,
dann die Arbeit.
Ich musste noch die Krankenscheine entsprechend verschicken.
An den Arbeitgeber und die Kasse.
Was auch noch so eine Sache ist,
wenn man sich nicht fühlt.
Natürlich hatte ich auch keine Marken mehr zur Hand.
Demzufolge bin ich im Zustand des Flusses zur Post gerannt.
Gut dabei,
dass alle Wege kurz waren.
Wieder zu Hause tat ich mehrmalig spülen
und anschließend apathisch auf der Couch liegend,
mein Gesicht kühlend,
auf Maus warten.
Schon am Abend zuvor packte ich Sachen zusammen.
Voll fette Reisetasche,
mit Dingen,
die man so braucht
und einigen,
die man eigentlich nicht braucht.
Denn ich war fest davon überzeugt,
dass mich einer der Ärzte in ein Krankenhaus einweisen würde.
Gefährlich genug sah mein Mund- und Rachenraum aus.
Auch mein Gesicht wich immer mehr vom Normalen ab
und glich eher einer Fratze.
Selbst die Glatze bekam rote Flecke,
wo vorher nie welche waren.
Stattdessen fuhr ich am Nachmittag nach Nordhausen.
Der Dr. dort half mir jedoch auch nicht wirklich.
Ich sollte in die Klinik nach Göttingen,
ca. 100 km und es war schon 16.30 Uhr.
Erst einmal Ratlosigkeit.
»Holen sie mal die Frau dazu.« meinte der Arzt.
Tat ich gerne,
denn eigentlich, war mir alles zunehmend egal.
»Ob sie nun nach Göttingen fahren
oder nach Magdeburg,
bleibt sich von der Fahrstrecke her gleich«,
gab der Medizinmann zu bedenken
und er fügte hinzu,
dass er einen guten Draht nach Göttingen hätte,
da sein Sohn dort praktizierte.
Es wurden solche Dinge durchgespielt,
dass ich Maus morgens um 5 Uhr zur Arbeit bringe,
dann nach Göttingen düse,
von dort aus wieder nach Haus
und abends Maus wieder von der Arbeit,
so gegen 19 Uhr,
abhole.
Total abstrus,
weshalb ich auch gleich abwinkte.
Unter halbwegs normalen Umständen
wäre ein solches Unternehmen verrückt,
aber bestimmt machbar gewesen.
Aber in meiner Lage?
Mit Feuer im Gesicht und leichten Sehstörungen,
dem Gefühl des Flusses,
fahre ich doch nicht im Dunklen
in eine fremde Stadt
durch kurvenreiche Waldlandschaft mit Wildwechsel.
Hat der Mann gedacht?
Und in Magdeburg habe ich Verwandtschaft,
dort kenne ich die Örtlichkeiten
und ich könnte zur Not auch mit Bus und Bahn dort hingelangen.
Also!
Es sollte/musste/durfte die Uni-Klinik Magdeburg sein.
Ein weiterer Anruf musste das klären.
Zwischenzeitlich wollte mir der Dr. Selenkapseln verkaufen.
30 Euro.
Die Laboruntersuchung noch mal 100 Euro.
Natürlich sollte ich das gleich entscheiden.
Natürlich, so was ist ja auch unheimlich wichtig.
Wir bekamen 5 Minuten,
um es zu überdenken.
Klar, daran hatte ich auch schon lang gedacht.
Quecksilber,
auch in noch so kleinen Mengen,
könnte toxisch sein.
Und ich reagiere sowieso empfindlich.
Aber ich weiß auch,
da ich mich schon früher damit beschäftigt hatte,
was alles an einem solchen Vorhaben hängt.
Mal vom Risiko,
das beim Entfernen einer jeden Zahnfüllung besteht,
abgesehen,
sind die Kosten nicht unerheblich.
Amalgam toxisch? Meine Kasse meint nein!
Wenn nicht sogar unerschwinglich.
»Geld oder Leben«, O-Ton vom Arzt.
Womit er sicher nicht falsch lag.
Jedoch würde ich über eine solche „langfristige" Therapie nachdenken,
wenn ich halbwegs wieder auf dem Damm bin.
In meinem derzeitigen Zustand würde sowieso kein Zahnarzt tätig werden.
Aber ich könne mich mal im Internet schlaumachen,
tat er protzen.
Er hätte auf diesem Gebiet geforscht
und sein Name steht dort.
OK?
Aber nun erst mal der Termin in Magdeburg:
am Montag zur regulären Autoimmunsprechstunde,
was hieß:
Das ganze Wochenende selber durchhalten.
Wenn es klappt, schreibe ich weiter.
(Waren meine Worte vor7 Jahren)
»Schwebe wie ein Schmetterling, stich wie eine Biene.«
Summ, summ, summ - Bienchen summ ... !
Re: Mein erstes ›wolfsMal‹ hab ich aufgeschrieben
von Dompteur am 09.12.2013 18:488.12./9.12./ vor7 Jahren
Ich schlief nackt im Stundentakt,
mit Wärmflaschen
und Kühlakkus eingepackt.
Von Tag zu Tag nahm der Wundherd zu und später wieder ab.
Nun eiterte auch die Lippe linksseitig,
da der Zahnarzt sie wegen der blöden Bilder aufgerissen hatte.
Ein ekliger Geschmack im Mund
und Angst vor der Morgentoilette.
Linderung brachte wenigstens eine Tasse Kaffee.
Ordentlich Milch hinzu
und erst einmal vorsichtig spülen.
Danach eine Schale Cornflakes.
Ordentlich Milch hinzu
und erst einmal weichen lassen.
Lange weichen lassen.
Lecker Matsch.
Kaum Kauen, nur irgendwie den Hals vollkriegen.
Danach wieder einen Schluck vom Kaffee.
Milch übrigens ging auch sehr gut zu trinken,
alles mit Sprudel drin gar nicht.
Inzwischen war das Zähneputzen auch schwieriger geworden,
da auch das Zahnfleisch anfing zu eitern.
Doch ich war der Meinung,
dass wenigstens die Essensreste raus mussten.
Wenn die auch noch darinnen rumgammeln,
ist das bestimmt nicht von Vorteil,
weil, greift die Entzündung aufs Blut,
ist es nicht weit einer Sepsis
und vor der hatte ich Respekt!
(„Also biss ich die Zähne zusammen und tat es.")
Ordentlich Blut mischte sich mit eitrigem Speichel
und lief in langen Fäden in den Ausguss.
Lange dauerte der Vorgang nicht.
Dann noch mal Spülen,
was fürchterlich brannte.
Ein bisschen später noch einmal spülen.
Diesmal jedoch mit Bepanthen® Lösung.
Die beruhigte ein wenig.
Abends gab es nur Tütensuppe.
Am 8.12. war's Blumenkohl
und am 9.12. war's Hühnersuppe.
Eigentlich ganz lecker.
Nur zusammen mit einer Schale matschiger Cornflakes am Morgen
nicht gerade ein üppiges Mahl.
Doch es reichte,
um nicht zu hungern.
Von Appetit war eh keine Spur zu spüren.
»Schwebe wie ein Schmetterling, stich wie eine Biene.«
Summ, summ, summ - Bienchen summ ... !
Re: Mein erstes ›wolfsMal‹ hab ich aufgeschrieben
von Dompteur am 11.12.2013 19:1211.12./vor7 Jahren
Dank intensivstem Kühlen mit Akkus aus dem Gefrierschrank
ging der Eiterherd etwas zurück,
wurde wenigstens nicht mehr schlimmer.
Denn längst war auch die Lippe von außen her betroffen.
Und ich konnte nur hoffen,
dass es zeitlich gesehen nicht eh schon zu spät war.
Von einer möglichen Sepsis,
wie schon erwähnt,
einer drohenden Blutvergiftung,
mal ganz abgesehen,
überstand ich das Wochenende.
Am Montag 11.12. ging ich dann ganz normal zur Sprechstunde.
Eigentlich wollte ich mich als Notfall melden,
damit es nicht so lang dauerte.
Aber tatsächlich war's im Mund etwas besser geworden,
sodass ich sogar darauf spekulierte,
vielleicht mit einer ambulanten Untersuchung auszukommen.
Ist ja auch nicht billig, will ich in Krankenhaus.
10 Euro pro Tag sind bei 10 Tagen,
na schätzen/scherzen wir mal ...
... und wenn du mit dem eigenen PKW anreisen musst,
kommen locker 6 Euro pro Tag Parkgebühren dazu.
Schlimmer ist nur noch die
›Strafgebühr‹ für ein Einzelzimmer,
77 Euro pro Tag.
Egal,
daraus wurde ja eh nichts.
Die junge Ärztin, mit kurzen blonden Haaren,
die meinen ganzen Kram aufnahm,
holte den Professor dazu.
Nach einigen Schwierigkeiten verstanden wir uns dann.
»Ach. Sind sie also ein Irrläufer?«
»Richtig!«
Er wusste nun, worum es ging.
Erinnerte sich an den Anruf letzter Woche
und somit war die Einweisung sowieso keine Frage mehr.
Vorsichtig wollte ich von der Ärztin wissen,
wie lange so eine Untersuchung wohl dauern könnte.
»Also eine Woche ist zu wenig.
Selbst 10 Tage,
mindestens 10 Tage müssen sie rechnen.
Wir brauchen ja erst einmal alle Ergebnisse.«
Ambulant würde es 3-4 Wochen dauern,
eh die verschiedenen Abteilungen
alle Werte untereinander koordiniert hätten
und dies wäre für mich,
in meiner Situation nun überhaupt keine Option,
hatte sie mir zu verstehen gegeben.
Wo ich ihr auch Recht gab.
Und sie lag mit ihrer Schätzung gut,
denn es wurden 9 Tage.
»Schwebe wie ein Schmetterling, stich wie eine Biene.«
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Re: Mein erstes ›wolfsMal‹ hab ich aufgeschrieben
von Ursula am 15.12.2013 14:50und wie geht es weiter ?
Der Mensch kann nicht tausend Tage ununterbrochen gute Zeit haben, so wie die Blume nicht hundert Tage blühen kann. Tseng-Kuang
Re: Mein erstes ›wolfsMal‹ hab ich aufgeschrieben
von surfhippie am 18.12.2013 00:57Der Wolf machte einen Krüppel aus ihr. Nachdem das Knie dank Cortisonsalbe abschwoll, folgte auch schon der nächste Wolfenstreich. Seine Bisse gingen unter die Haut und sogar noch etwas tiefer. Rot und violett angeschwollene Fußknöchel, steife Schultern, die das Schlafen auf der Seite zur Qual machten, geschwollene Handknöchel wie Tennisbälle und steife Finger, als ob man sie in ein Eisbad getunkt hätte, bildeten die rheumatoiden Symptome der heimtückischen Krankheit ab. In ihrem Inneren sah es nicht viel besser aus. Ihr Körper war ein einziges Schlachtfeld, dachte sie. Gesunde Zellen fraßen nicht nur abgestorbenes Gewebe, sondern auch sich selber auf, wenn sie keine Lust mehr hatten weiterzuleben. Wie Selbstmord. Und Eve konnte nicht das Leiseste dagegen unternehmen. Sie war machtlos. Hatte kein Mitspracherecht. Das reinste Massaker. Der Wolf hatte tausend Gesichter. Er war ambivalent. Muskeln, Sehnen, Knochen, Organe. Der Wolf gab sich mit allem zufrieden, was er auseinandernehmen konnte. Zerfleischen. Da Dr. Seiler seine Existenz nun entlarvt hatte, sah sich das Biest im rotbraunen Pelz im Recht seine Gelüste offen auszuleben. Dazu gehörten Beißen, Kratzen, Grölen und Jaulen, manchmal konnte es auch vorkommen, dass er sich einfach nur die Pfoten leckte und die Zunge aus dem Maul heraushängen ließ, ohne auch nur ein einziges Mal seine Zähne zu fletschen. Sie waren auch gerne mal Faulenzer, die Wölfe. Man musste schließlich seine Kräfte gut einteilen. Unheilbar krank sein bedeutete, dass sie so lange am Leben bleiben würden, wie ihr Wirt noch am Leben war. Es wäre viel zu langweilig, immer nur zu schlafen und nichts zu tun. Ausbrechen konnten sie nicht. Der Körper ihres Wirts war ihre erste und letzte Spielwiese. Sie waren über diese Begrenztheit genauso informiert, wie das Opfer. Beide wussten was ihnen bevorstand. Niemand war im Vorteil. Sie begegneten sich auf Augenhöhe, wenn man rein vom Wissensstand ausging. Was die Macht betraf, so dürfte ihnen beiden ziemlich klar sein, wer wen beherrschte. Es lag auf der Hand, jedenfalls für die meisten Menschen. Eve war jedoch niemand, der sich in diese Allgemeinheit einreihte. Sie war selbst betroffen. Sie hatte die Wahl, entweder Wirt oder Opfer zu sein. Der Wirt war gegenüber seinem Gast eindeutig im Vorteil. Der Wolf hatte nichts zu melden, wenn er auch in Zukunft von ihr bedient werden wollte, lautete Eves Kampfansage. Er hatte sich gefälligst unterzuordnen, wenn er seinen Fraß bekommen wollte, dieser elende Köter. Von Beginn an verfolgte sie die Strategie, den Wolf unerbittlich fühlen zu lassen, dass sie die Kontrolle übe ihn hatte und nicht anders herum.
Obgleich Dr. Seiler versuchte, ihr das Gegenteil zu verklickern, ließ sie sich nicht in ihrer monopolen Alleinherrschaft erschüttern. Sie würde ihren haarigen Freund zähmen, bis er irgendwann vor Furcht erstarrte und nie wieder aufwachte. Dr. Seiler musste ja nichts davon wissen. Es reichte, wenn der Wolf und sie selbst es wussten. Eine Überweisung in ein Krankenhaus brachte die vollständige Wahrheit ans Licht. Man schloss eine Nierenbeteiligung nicht aus, doch nur eine Biopsie konnte den fundierten Nachweis erbringen. Es war die Zeit, in der Eve erwachsen wurde. Wer wurde es nicht, wenn man mit Patientenaufklärungen und Einverständniserklärungen für lebensgefährdende Eingriffe bombardiert wurde, von denen man am liebsten nie was gehört hätte. Doch Oma Holli wollte, dass Eve selbst darüber entschied, was man mit ihrem Körper anstellte, auch wenn sie noch nicht achtzehn war. Es nützte nichts sich mit potenziellen Komplikationen auseinanderzusetzen, wenn man keine andere Wahl hatte und wieder gesund werden wollte, was hinsichtlich einer unheilbaren Krankheit sowieso nie möglich war. Die Biopsie hatte deshalb nur den Zweck herauszufinden, inwieweit der Lupus die Nieren schon geschädigt hatte. Eve war bei ihrem ersten Eingriff unter Narkose fünfzehn Jahre jung. Die anderen aus ihrer Klasse schossen sich an den Wochenenden mit reichlich Alkohol ins Abseits, während man ihr hier legal Lidocain spritzte. Ohne Schmerzmittel hätte sie es die ersten Wochen nicht ausgehalten. Der Lupus war noch viel zu aggressiv und noch nicht bereit zu kooperieren. Er wütete wie von Sinnen. Man musste sich erst einmal an sein Tempo gewöhnen, seine Grenzen ausloten, ihn vorsichtig anlocken bis man den Dreh raus hatte und ihn mit seinen eigenen Mitteln schlagen konnte. Bis dahin half es, brav die Medikamente zu schlucken, die den Anschein erweckten genau die Symptome heraufzubeschwören, die man eigentlich zu bekämpfen ersuchte. Das Lupus-Paradoxon war hiermit geboren. Da der Wolf tausend Gesichter hatte, musste man ihm tausend verschiedene Arten von Scheiße in die Fresse feuern, damit er Ruhe gab. Die größte Scheiße trug den Namen Cyclophosphamid, worunter sich kein halbwegs normaler Mensch etwas vorstellen konnte, wenn er noch nie, mit etwas mehr, als die Allgemeinmedizin hergab, in Berührung gekommen war. Gut für ihn, schlecht für all diejenigen, die die Arschkarte gezogen hatten, so wie auch Eve. Unter dem Begriff Chemo jedoch konnten sich aber auch die Glückspilze auf der anderen Seite etwas vorstellen. Kahle Köpfe, dünnhäutige, mit Nadeln zerstochene Arme, grün anlaufende Gesichter mit Augen, so stumpf und leer. Genauso leer, wie die Mägen, die zu ihren Trägern gehörten. Leer, weil sie alles erbrachen, womit sie gefüllt waren, wegen der Nadeln, durch dessen millimeterbreite Hohlöffnung eine Substanz in die zerstochenen Arme durchsickerte. Chemo. Oder Endoxan. Oder für die Klugscheißer unter ihnen Cyclophosphamid. Früher wäre Eve genauso leichtsinnig gewesen zu glauben, dass nur Krebskranke Chemo bekamen, heute wusste sie es besser. Lupus-Kranke durften an diesem Kotzvergnügen gleichermaßen teilhaben. Welch Freude, dachte sie polemisch. Da war ihr Borreliose viel lieber gewesen. Fünfhundert Milligramm hochprozentiges Gift tröpfelten, seit man das Untier in ihr endlich identifiziert hatte, jede zweite Woche in ihre Venen und das insgesamt sechsmal. Nach jeder Sitzung verlor sie ein Büschel Haare, bis am Ende nicht viel mehr als ein paar Fuseln übrigblieben, die sich spinnennetzartig über ihren noch kindlichen Schädel zogen. Sie sah aus, wie eine Krebskranke, waren ihre Worte gewesen, als sie ihr Profil im Spiegel betrachtete. Von da an wusste sie, dass sich der Lupus und der Krebs die Hand reichen konnten. Gleichzeitig erkannte sie auch, dass der Lupus ernst zu nehmen war, wenn er in der Lage war, so viel Schaden wie der Krebs auszurichten. Nach der Chemotherapie stützte sich ihr Medikamentenkonsum auf fünf Säulen. Cortison gegen die Gelenkschmerzen und Entzündungen, Paracetamol gegen die Fieberschübe, Pantozol gegen die Magenschmerzen, Cellcept und Quensyl, um das überschießende Immunsystem herunterzufahren, was zugleich auch bedeutete, dass man sich umso mehr vor äußeren Einflüssen schützen musste, da man die körperliche Abwehr bewusst schwächte und sich deshalb schneller bei Anderen anstecken konnte. Im Krankenhaus trug das Personal Mundschutz, wenn es in Eves Nähe war. Das Desinfektionsspray nahm fortan einen festen Platz in ihrem Kulturbeutel ein, genauso wie die ganzen Pillenpackungen. Damit sie einen Überblick über ihren täglichen Medikamentencocktail bewahrte, hatte ihr Oma Holli ein Miniatur-Medizinschränkchen in Form von sieben übereinander gestapelten Medikamentenboxen geschenkt. Jede Box stand für einen Wochentag und war zudem noch dreigeteilt in morgens, mittags und abends, sodass es zu keinen Verwechslungen kommen konnte. Eve spülte jeden Tag pflichtbewusst den Inhalt dieser Boxen mit einem großen Schluck Wasser runter, ohne sich über deren Nebenwirkungen zu scheren. Sie war froh, wenn sich dadurch wenigstens die Schmerzen betäuben ließen. Vergaß sie mal eine Tagesration dauerte es nicht lange, bis die Folgen ihrer Unachtsamkeit bis ins Knochenmark vordrangen und der Wolf alles, was ihm dabei in die Quere kam gleichermaßen zerfetzte, wie Schafe die mit offenen Mägen und heraushängenden Eingeweiden von der Weide kamen. Er war aktiv, der Lupus. So bezeichneten die Ärzte ihren damaligen Zustand. Das Gegenteil nannte sich Remission, der Idealzustand. Das, worauf man hin arbeitete. Den Wolf in eine Art Winterschlaf zu versetzen war das Maß aller Dinge, wenn man ihn schon nicht töten konnte. Das Lupus-Paradoxon zeigte schon nach nur wenigen Wochen erste Spuren. Ihr Gesicht quoll vom Cortison auf, ihre Haare wurden lichter, die Nägel brüchiger, die Haut trockener. Im Spiegel erkannte sie sich plötzlich nicht mehr wieder. Das einzig Positive an der Therapie, die aus ihr ein Monster machte, war, dass sie nicht zur Schule gehen konnte. Auch wenn man es ihr erlaubt hätte, wäre sie niemals auf die Idee gekommen, sich als ehemaliges Leichtgewicht nun als Zwillingsschwester von Cindy aus Marzahn zu präsentieren, ganz zu schweigen von den Reaktionen ihrer Mitschüler,wenn diese ihre Geheimratsecken entdeckten. Sie fühlte sich nicht mehr weiblich. Das Cortison hatte einen Wackelpudding auf zwei Beinen aus ihr gemacht. Auf eigene Faust beschloss sie deswegen das Cortison abzusetzen. Damit fing alles an. Erst ließ sie es nur einen Tag aus. Aus einem wurden zwei. Aus zwei drei und so weiter, bis sie es eines Tages ganz verschwinden ließ. Oma Holli musste davon nichts mitbekommen. Trotz dem Wegfall dieses Basis-Lupus-Medikaments, besserte sich ihr Zustand kontinuierlich, bis sich irgendwann sogar der Idealzustand einstellte. Remission hieß das neue Paradies. Der Wolf hatte ein ganzes Jahr lang seine Klauen gewetzt. Nun waren sie endlich abgestumpft, triumphierte es in Eve auf. Die monatlichen Arztkontrollen wurden nur noch auf vier Termine im Jahr begrenzt und auch Oma Holli achtete nicht mehr ganz so streng auf die Einnahme ihrer Pillen, was es Eve ungemein erleichterte, ihren geheimen Plan zu verfolgen. Dieser trug den Namen „Operation zurück ins Leben" und beinhaltete perfide Trainings- und Essensanweisungen, die sie wieder in Form bringen sollten. Sie hungerte sich sogar unter ihr einstiges Normalgewicht runter. Mit jedem Kilo, das von ihr purzelte, gewann sie mehr Selbstsicherheit und darüber hinaus die Aufmerksamkeit der Jungs aus ihrer Stufe. Sie fühlte sich nach diesem Schicksalsjahr wie neugeboren. Eve 2.0 war im Vergleich zum Vorgängermodell straighter, rebellischer und freier. Frei in allem. Im Handeln, im Klappe-zu-weit-aufreißen, im Denken, im Fühlen, im Ausprobieren ihrer Reize und der Wirkung auf das andere Geschlecht. Das alles musste Oma Holli nicht wissen. Genausowenig wie von dem Schuhkarton unter ihrem Bett, in dem die ungeöffneten Pillenpackungen drohten überzuquellen. Um nicht aufzufliegen, ließ sie sich bei jedem Kontrolltermin ein neues Rezept ausstellen, das sie auch tatsächlich in der Apotheke einlöste. Die bunten Pillen hingegen landeten nur nicht da, wo man sie am meisten gebraucht hätte. Eine Remission war etwas Feines, weil man die lästigen Medikamente in dieser Phase nicht brauchte. Falsch. Man glaubte sie nicht zu brauchen, weil der Wolf ruhte. Irgendwann würde es zum Eklat kommen, zum unliebsamen Wolfserwachen, wusste sie doch sie hatte auch im Netz gelesen, dass durchaus mehrere Jahre vergehen konnten, ohne dass es dazu kam. Das war der Augenblick, in dem sie die Lust überkam, mit ihrer Gesundheit, mit dem Schicksal zu parieren. Wie ein Spiel mit dem Schalk. Wer würde das Duell gewinnen? Wer würde länger durchhalten? Eve oder der Wolf?
Heute war der lang gefürchtete Tag gekommen. Das Bangen hatte ein vorübergehendes Ende. Der Sieger war gelüftet. Es war der Wolf, dachte sie voll Wehmut, noch immer an die Zimmerdecke starrend. Neben ihr auf der Ablage der Nachtkommode lag eine Box prall gefüllt mit Pillen in allen möglichen Farben, Größen und Formen. Sie sah so ähnlich aus, wie jene, die sie von Oma Holli geschenkt bekommen hatte. Der einzige Unterschied zu früher war lediglich die Tatsache, dass sie heute mindestens eine Fingerbreite mehr Pillen schlucken durfte. Das war also der Preis für ihren Egoismus. Sie wollte doch nur wieder schön sein, seufzte sie. Was war daran falsch? Der Wolf wollte immer ein wenig schöner sein. Er war in Wirklichkeit der Egoist. Er hatte sie ausgestochen, doch das Rennen war noch lange nicht entschieden, dachte sie. Es war erst vorbei, wenn sie es beendete. Sie würde die Kontrolle, die sie einst über das Untier hatte, nicht einfach so hergeben. Da musste er sie schon zu Tode zerfleischen.
Re: Mein erstes ›wolfsMal‹ hab ich aufgeschrieben
von surfhippie am 18.12.2013 01:09Das ist ein Auszug aus dem Kapitel "Erstbiss". Eve erinnert sich an den Ausbruch ihrer Krankheit, ihre erste Begegnung mit dem Wolf, als sie sieben Jahre später wieder im selben Krankenhaus liegt.
Wie gefällt euch die Leseprobe?
Ich habe beschlossen eine autobiografische Leidensgeschichte zu schreiben, in der Hoffung den Betroffenen bzw. allen Interessierten durch die Ich-Figur näher zu kommen.
Den obigen Roman habe ich zwar vordergründig aus der Perspektive der Leidtragenden geschrieben, doch die beiden Figuren und ihre Probleme nehmen ebenso viel Platz ein in dem Gesamtwerk, sodass sich der Fokus SLE verschiebt zugunsten anderer Themen des menschlichen Seins.
Ich werde bald eine längere Reise machen, die ich dazu nutzen möchte, die Geschehnisse diesen Jahres zu verarbeiten. Ich hoffe, dass ich es schaffen kann meine Autobiografie im Lichte der Krankheit neben Krebs/MS-Erfahrungen auf dem Büchermarkt zu platzieren, denn SLE sollte mindestens denselben Stellenwert in der Öffentlichkeit erlangen!
Re: Mein erstes ›wolfsMal‹ hab ich aufgeschrieben
von surfhippie am 18.12.2013 01:32oh sorry!! Ich habe erst jetzt bemerkt, dass ich auf den Link von Dompteur gelangt bin und auf einen alten Beitrag geantwortet habe Der aktuelle Bezug zu meinem Beitrag findet sich im Forum in der Rubrik Dies und das, falls jemanden mein Projekt weitergehend interessiert :)